Islamistischer Extremismus

Wo Glaube instrumentalisiert wird

Religiös begründeter Extremismus zeichnet sich dadurch aus, einen Glauben zur Durchsetzung und Legitimation eines Machtanspruchs zu instrumentalisieren. Dabei beruft sich eine Minderheit, die ihre Auslegung des Glaubens als Gegenmodell zu westlichen, demokratischen Staats- und Gesellschaftsformen versteht auf die notwendige Wiederherstellung einer vermeintlich verloren gegangenen Ordnung.

Um Gewalt und Terror zu rechtfertigen, derer es zur Durchsetzung dieser Ordnung bedarf, berufen sich religiös argumentierende Extremisten auf die schriftliche Auslegung ihres Glaubens und die darin vermeintlich enthaltenen Forderungen. Ihrer Lesart zufolge ist der Einsatz von Terror nicht nur gegenüber Anders- und Nichtgläubigen legitim, sondern auch gegenüber Angehörigen der eigenen Glaubensgemeinschaft, die das extremistische Weltbild nicht teilen.

Dschihadist*innen, "IS"-Fanatiker*innen und Ausreisewillige

In den vergangenen Jahren ist die Zahl oft sehr junger Menschen, die sich im Prozess religiös begründeter Radikalisierung befinden, stark angestiegen. Unabhängig davon, ob es sich um radikalisierte Rückkehrer*innen handelt oder um eine von deutschem Boden ausgehende „hausgemachte“ Radikalisierung, lässt sich eine gewisse Korrelation zwischen Radikalisierungsanfälligkeit und bestimmten biographischen Faktoren verzeichnen. So legen z. B. Arbeitslosigkeit, Scheidung, Kriminalität, aber auch Gefühle von Benachteiligung, Entfremdung und Marginalisierung eine erhöhte Bereitschaft nahe, sich auf Erklärungsmuster einzulassen, die der religiös begründete Extremismus für die in westlichen Gesellschaften empfundene Viktimisierung (Opfererfahrung) bietet.

Befreiungstheologie für Opfer des Systems?

Wer sich als Opfer des Systems versteht, wird anfälliger für ideologische Narrative, die schlichte Erklärungen liefern und dem ausgestoßenen Individuum eine Heimat im kollektiven Wir ermöglichen. Vor allem Jugendlichen der zweiten und dritten Generation, die im Spagat zwischen Herkunftsmilieu und Einwanderungsgesellschaft letztere oft als kalt, ungerecht und erbarmungslos erleben, stellt sich religiös begründeter Extremismus als eine Art „Befreiungstheologie“ dar. Das Risiko einer „Radikalisierung von Restidentitäten“ basiert damit weniger auf der tatsächlichen Identifikation mit religiösen Inhalten, als auf der Instrumentalisierung einer Sehnsucht nach Zugehörigkeit durch Extremist*innen.

Rekrutierung über Social Media und Beziehungsangebote

Ein zunehmend von feindbildorientiertem Denken geprägtes gesamtgesellschaftliches Klima ist ohnehin schon angetan, dem Extremismus in die Hände zu spielen. Zu einem bisher unbekannten Ausmaß trägt aber ein weiterer Faktor zum massiv gestiegenen Radikalisierungsrisiko junger Menschen bei: Mit Onlinemedien, die die Zugangsschwelle zu ideologischen Inhalten, radikalisierten Gruppen und Szenen senken, verfügt der Extremismus 2.0 über ein Rekrutierungsarsenal par excellence.

Doch das Netz dient dabei nur zur Kontaktanbahnung und Erstagitation, um den Kontakt möglichst unmittelbar im Anschluss auf die reale Ebene zu überführen und die zu rekrutierenden Jugendlichen in soziale Zusammenhänge einzubinden. Konventionelle, auf Bildung und Argumente beschränkte Präventionsmaßnahmen unterschätzen oft das Beziehungsangebot, das Extremist*innen jungen Menschen auf der Suche nach Orientierung und Zugehörigkeit machen. Wer für den Extremismus rekrutiert, bedient dieses Bedürfnis gezielt und versucht, auf zwischenmenschlicher Ebene eine Bindung an die radikalisierte Gruppe herzustellen.

Was extremistische Strömungen unterschiedlicher Couleur eint

Bei allem, was rechtsextremistische Strömungen vom religiös begründeten Extremismus unterscheidet, steht hinter der Ausbreitung beider Phänomene eine nicht zu unterschätzende Dynamik, die sich aus der gegenseitigen Instrumentalisierung als Feind speist und das Mobilisierungspotenzial auf beiden Seiten steigert. Jeder terroristische Anschlag, der sich den „Dschihadisten“ zuschreiben lässt, verschafft dem Rechtsextremismus neuen Zulauf. Jeder Anschlag auf eine Moschee, der die Handschrift rechtsextremer Hasskriminalität trägt, stärkt das Mobilisierungspotenzial islamistischer Gruppierungen. Beide Milieus versuchen, die Gesellschaft zu spalten und zu polarisieren, um Menschen aus der Mitte auf ihre Seite zu ziehen.

Der Weg in den Extremismus ist nicht zwangsläufig

Oft steht und fällt die Frage nach der Verfestigung extremistischer Positionen mit der Szene, in der sich radikalisierungsgefährdete Menschen bewegen. Menschen, die noch nicht über ein verfestigtes ideologisches Weltbild verfügen, sind zugänglich – und zwar für beide Seiten. Dann ist es von existenzieller Bedeutung, auf wen sie in ihrer Suche nach Orientierung treffen: auf diejenigen, die ihnen genau eine Antwort, eine Wahrheit, ein Weltbild vermitteln – oder auf Menschen, die sie zum Hinterfragen vermeintlicher Wahrheiten anregen und ihnen die Möglichkeit und Berechtigung anderer Sichtweisen aufzeigen. Wer die Vielfalt möglicher Weltsichten, Glaubensbekenntnisse und Haltungen anzuerkennen bereit ist, wird sich perspektivisch aus eigenem Antrieb von einem auf Feindbilder und Schuldige reduzierten Weltbild distanzieren. Um einen solchen Distanzierungsprozess einzuleiten und Menschen den Weg aus der Gefährdungszone zu weisen, bedarf es einer qualifizierten Begleitung.