Starke Zivilgesellschaft – Kooperativer Staat

Strategien gegen Rechtsextremismus
Ein Positionspapier von Judy Korn und Thomas Mücke, August 2020

 

Der Rechtsextremismus in Deutschland befindet sich, und das ist nicht nur eine Begleiterscheinung der Covid-19-Pandemie, in einer neuen Phase. Die Zeiten, in denen wir uns allein mit marodierenden Jugendlichen in Springerstiefeln befassen mussten, gehören der Vergangenheit an. Die Szene hat sich vergrößert, neue Strukturen aufgebaut und sich weit in Gesellschaftsschichten verlagert, die zuvor nicht im Fokus der Prävention und der Bekämpfung von Rechtsextremismus standen. Die Zahl der Opfer rechtsextremistischer Gewalt steigt immer weiter an und betrifft unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, zunehmend besonders jene, die sich aktiv für Demokratie und Menschenrechte einsetzen.

Die Stärke der deutschen Präventionslandschaft ist ihre vielfältige Struktur, bestehend aus verschiedenen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, die in der Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention tätig sind. Die besondere Rolle der Zivilgesellschaft in Deutschland wird insbesondere im internationalen Vergleich sichtbar. Sie beinhaltet eine beispiellose Diversität der Ansätze, Breite der Kompetenz und Erfahrung im Umgang mit Extremismus, die wir weiter stärken müssen.

Um den neuen Herausforderungen gerecht zu werden, ist eine strukturelle und inhaltliche Weiterentwicklung in der Tertiärprävention in Deutschland vorzunehmen. Diese ist dringend geboten, um den sich verändernden Strukturen im Phänomenbereich Rechtsextremismus wirksam begegnen und rechtsextremistische Radikalisierungsprozesse frühzeitig erkennen und beenden zu können.

Diese Weiterentwicklung basiert auf drei Punkten:

1. Schaffung von neuen Maßnahmen der Tertiärprävention für Personen ohne intrinsische Ausstiegsmotivation sowie für deren soziales Umfeld im Themenfeld Rechtsextremismus

2. Tragfähige Kooperationsstrukturen zwischen sicherheitsbehördlicher und pädagogischer Intervention im Themenfeld Rechtsextremismus

3. Bundesweite Moderation von Maßnahmen der Tertiärprävention im Themenfeld Rechtsextremismus

 

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  1. Schaffung von neuen Maßnahmen der Tertiärprävention

Im Rechtsextremismus gibt es neue Dynamiken, neue Gruppierungen und eine Verschiebung des Altersschwerpunktes der Tatverdächtigen von sehr jungen Menschen hin zu erwachsenen Personen, die bereits über ein geschlossenes Weltbild verfügen und kaum noch für gängige Maßnahmen der Prävention zugänglich sind. Die Bedrohungen durch diese Personen entwickeln sich verstärkt jenseits der bekannten rechtsextremen Organisationen. Parteien spielen mittlerweile eine untergeordnete Rolle, unterschiedliche Bewegungen formieren sich zu einer neuen Querfront mit rechtsextremistischen, antisemitischen und souveränistischen Ausprägungen. Dies bedeutet, dass klassische Ausstiegsprogramme für diese Menschen oft nicht mehr greifen – die Zielgruppenerreichung ist damit deutlich erschwert.[1]

Mit 22.342 Straftaten im Bereich politisch motivierte Kriminalität – rechts – nähert sich die Zahl aktuell wieder den Höchstständen aus den Jahren 2015/2016 an[2]. Auch das rechtsextremistische Personenpotenzial aus diesem Spektrum ist laut Bundesamt für Verfassungsschutz[3] gegenüber 2018 stark angestiegen. Rund 32.080 Menschen werden demnach dem rechtsextremen Spektrum zugeordnet (ein Drittel mehr als in 2018: 24.100), rund 40 % davon gelten als gewaltorientiert, 65 Personen werden als „Gefährder“ eingestuft.

Deutschland verfügt im Themenfeld des Rechtsextremismus im Gegensatz zum Themenfeld des islamistischen Extremismus nicht über geeignete Deradikalisierungs- und Distanzierungsprogramme für Personen ohne intrinsische Ausstiegsmotivation. Diese Lücke muss geschlossen werden durch Ansätze, die gezielt (junge) Erwachsene aus dem rechtsextremen Spektrum in den Fokus nehmen, die noch keine Ausstiegsmotivation formuliert haben. Zudem müssen diese Ansätze die Erweiterung des Zielgruppenspektrums auf (ältere) Erwachsene berücksichtigen.

Eine besondere Herausforderung ergibt sich hier durch (ehemalige) Angehörige der Bundeswehr mit extremistischen Tendenzen. Nicht erst in den vergangenen Monaten ist bekannt geworden, dass innerhalb der Bundeswehr als demokratischer Institution (vereinzelte) Bundeswehrangehörige immer wieder die Grenze zum Extremismus überschreiten.[4] [5]

Deradikalisierungsprogramme innerhalb der Bundeswehr existieren nach aktuellem Kenntnisstand jedoch nicht, entsprechend auffällige Personen werden ggf. aus der Institution entfernt. In diesen Fällen führt der damit verbundene Zuständigkeitswechsel zwischen unterschiedlichen Ressorts zu einem Handlungsvakuum. Die nach Suspendierung oder Ausschluss sicherlich teilweise erfolgende „Fallübergabe“ an Sicherheitsbehörden kann allenfalls zur Sicherstellung der Beobachtung von gefahrenrelevanten Personen dienen. Eine Bearbeitung der extremistischen Haltung mit dem Ziel der Deradikalisierung erfolgt nicht. Dies ist umso unverständlicher, da es sich hier um an der Waffe ausgebildete Personen handelt, von denen eine erhebliche Gefahr sowohl für einzelne Personen als auch für die Allgemeinheit ausgehen kann.

Diese Lücke aufgrund des Zuständigkeitswechsels muss umgehend geschlossen werden. Nahtlos anknüpfende pädagogische/psychologische Interventionen von Trägern, die Fachkompetenzen im Umgang mit gefahrenrelevanten Personenkreisen aufweisen sowie ggf. in Kooperation mit den zuständigen Sicherheitsbehörden, sind dringend zu etablieren.

Unsere Forderung:

Schaffung von neuen Maßnahmen der Tertiärprävention für Personen ohne intrinsische Ausstiegsmotivation sowie für deren soziales Umfeld auch im Themenfeld Rechtsextremismus

 

  1. Konstruktive Verschränkung von sicherheitsbehördlicher Erfassung, strafrechtlicher Verfolgung sowie pädagogischer Intervention im Themenfeld Rechtsextremismus

 Seit 2013 wurden unter dem Dach des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wirksame und tragfähige Kooperationsstrukturen zwischen staatlichen Strukturen, Sicherheitsbehörden und zivilgesellschaftlichen Trägern im Themenfeld des islamistischen Extremismus aufgebaut. So konnten pädagogische Intervention und die ggf. notwendige sicherheitsbehördliche Bewertung eines Falles verknüpft werden. Diese Strukturen haben dazu beigetragen, Menschen an der Ausreise nach Syrien zu hindern, Gewaltstraftaten zu vermeiden und seit einiger Zeit auch Rückkehr*innen zu re-integrieren. Derartige verschränkte Strukturen müssen auf das Themenfeld Rechtsextremismus übertragen werden.

Notwendig für das Gelingen einer erfolgreichen Kooperation zwischen staatlichen Strukturen, Sicherheitsbehörden und zivilgesellschaftlichen Trägern ist die klare Kommunikation der unterschiedlichen Erwartungshaltung und die genaue Klärung der Rollen auf allen Seiten.[6] Im Bereich des islamistischen Extremismus ist dies in den vergangenen Jahren bereits gelungen. Hier sind Beispiele für regelmäßige Austauschformate auf Bundes- und Landesebene vorhanden, die auf den Rechtsextremismus übertragen werden können. Dieser Austausch dient zum Vertrauensaufbau, zur beidseitigen Transparenz und zur Verdeutlichung der Arbeitsweise der verschiedenen Professionen/Institutionen und klärt die damit verbundenen Erfordernisse und Zuständigkeiten.[7]

Eine Kooperation zwischen sicherheitsbehördlicher und pädagogischer Intervention im Themenfeld des Rechtsextremismus kann gelingen, wenn partiell rechtsextreme Haltungen innerhalb von Polizei und Sicherheitsbehörden weiterhin mit aller Konsequenz und Transparenz untersucht und strukturelle Veränderungen innerhalb der Institutionen zur Verhinderung weiterer derartiger Entwicklungen umgesetzt werden. [8]

Unsere Forderung:

Tragfähige Kooperationsstrukturen für eine Verschränkung zwischen sicherheitsbehördlicher und pädagogischer Intervention

 

  1. Bundesweite Moderation von Maßnahmen der Tertiärprävention im Themenfeld Rechtsextremismus

Mit der Einrichtung der Beratungsstelle Radikalisierung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und der damit verbundenen Hotline für Fälle von islamistischer Radikalisierung wurde ein wesentlicher Baustein geschaffen, um der Herausforderung islamistischer Radikalisierungsprozesse kompetent zu begegnen. Durch die bundesweite Moderation der zivilgesellschaftlichen und staatlichen Beratungsleistungen in den einzelnen Bundesländern sowie der Sicherstellung einer ggf. notwendigen sicherheitsbehördlichen Fallbewertung konnten allgemein gültige Standards[9] in der Beratung errichtet und die Qualität der Beratungsleistung gesichert werden. Diese Struktur sollte auf den Phänomenbereich des Rechtsextremismus übertragen werden.

Unbedingt notwendig ist hierfür die Einrichtung einer Beratungsstelle Radikalisierung Rechtsextremismus (z. B. beim Bundesamt für zivilgesellschaftliche Aufgaben) mit einer bundesweiten Hotline, die eine Fall-Weiterleitung an bestehende und zu entwickelnde Beratungsstrukturen in den Bundesländern umsetzt. Sind keine Beratungsstrukturen vor Ort vorhanden, sollte der Beratungsfall an ein zu schaffendes mobil agierendes zivilgesellschaftliches Trägernetzwerk weitergeleitet werden, um eine unmittelbare pädagogische Intervention abzusichern. Nur so kann schnell und niedrigschwellig auf aktuellen Interventionsbedarf reagiert werden. Um eine schnelle Intervention sowie eine an allgemein gültige Standards orientierte Qualität der Beratungsleistung vor Ort abzusichern, ist ein koordiniertes und abgestimmtes Handeln zwischen Bund und Ländern Voraussetzung.

Wesentliche erste Aufgaben der Beratungsstelle Radikalisierung Rechtsextremismus wären:

  • Einrichtung und Betrieb einer bundesweiten Hotline mit Fall-Weiterleitung an existierende oder einzurichtende Beratungsstrukturen in den Bundesländern
  • Entwicklung von bundeseinheitlichen Empfehlungen für die Zusammenarbeit zwischen zivilgesellschaftlichen Trägern und Sicherheitsbehörden im Kontext Arbeit mit gefahrenrelevanten Fällen
  • Sicherstellung der ggf. notwendigen sicherheitsbehördlichen Bewertung eines Falles durch die Kooperation mit Bundes- und/oder Landessicherheitsbehörden.
  • Entwicklung von allgemein gültigen Standards in der aufsuchenden Intervention zur Verbesserung der Qualität der Beratungsleistung in Kooperation mit Trägern, die Fachkompetenzen in der aufsuchenden Extremismusarbeit sowie im Umgang mit gefahrenrelevanten Personenkreisen aufweisen
  • Gestaltung und Moderation einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen zivilgesellschaftlichen und staatlichen Akteur*innen

Unsere Forderung:

Bundesweite Moderation von Maßnahmen der Tertiärprävention im Themenfeld Rechtsextremismus

 

 

Quellen:

[1] Hohnstein, Greuel, Glaser: Einstiege verhindern, Ausstiege begleiten. Pädagogische Ansätze und Erfahrungen im Handlungsfeld Rechtsextremismus. Deutsches Jugendinstitut e. V., Halle, 2015: 20-31.

[2] Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat/Bundeskriminalamt (Hrsg.): Politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2019 – Bundesweite Fallzahlen, Berlin 2020.

[3]Verfassungsschutzbericht 2019 – Fakten und Tendenzen – Kurzzusammenfassung, Berlin 2020.

[4] https://www.zeit.de/kultur/2017-05/bundeswehr-franco-a-terrorgruppe-wehrmacht-weimarer-republik, zuletzt eingesehen am 24.7.20.

[5] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/der-ernstfall-rechtsextreme-umtriebe-im-ksk-ein-kommentar-a-8c021afb-b13b-4f9e-b1de-8b641c80b338. Zuletzt eingesehen am 24.7.20.

[6] Vgl. dazu Handle, Korn, Mücke: Zivilgesellschaftliche Organisationen in der Tertiärprävention, Heft 3/2019, Berlin 2019.

[7] Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen: Integriertes Handlungskonzept gegen Rechtsextremismus und Rassismus. Düsseldorf, 2016: 27-33.

[8] https://www.bpb.de/apuz/291189/polizei-und-rechtsextremismus, zuletzt eingesehen am 18.6.2020, https://www.ndr.de/nachrichten/info/sendungen/das_forum/Rechtsextremismus-bei-der-Polizei,sendung986396.html, zuletzt eingesehen am 18.6.2020.

https://www.fr.de/politik/rechtsextremismus-rechtsextreme-polizei-bundeswehr-behoerden-zr-13777394.html, zuletzt eingesehen am 18.6.2020.

[9] Vgl. Standards in der Beratung des sozialen Umfelds (mutmaßlich) islamistisch radikalisierter Personen – Allgemeine Handreichung des Beratungsstellen-Netzwerks der Beratungsstelle „Radikalisierung“ des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) (Hrsg.), Nürnberg 2018.