Der Russe hat doch angefangen

„O.k., Alex, weißt Du, was der Mann, den Du zusammengeschlagen hast, jetzt macht?“ „Na, Rollstuhlfahr´n, denk ich mal…“ Im Zeitlupentempo klaubt Alex ein Stück Würfelzucker aus der Packung. „Hat ma jemand´n Löffel für mich?“ „Der Zeitpunkt Deiner Tat, Alex, wann war das?“, hakt Tom nach. „Sommer 2007.“ Demonstrativ leckt Alex den Kaffeelöffel ab und lässt ihn in die Tasse vor seinem Nachbarn fallen. „Mann, ey, tickst Du noch ganz richtig? Glaubste, die angerotzte Scheiße trink ich noch?“ Ohne zu zucken, das Gesicht über der Kaffeetasse, empfängt Alex den Faustschlag in den Oberarm. „O.k., Jungs, jetzt mal zur Sache, ja? Alex, erzähl´ uns doch bitte, was genau damals passiert ist und wie es dazu gekommen ist.“ „Is´ eigentlich keine große Story. Wir ham halt den ganzen Abend an der Tanke rumgehangen, dann kamen die Russen mit dem Wodka an und haben die Marion abgefüllt, und als ich dem Iwan dann gesagt hab, er soll seine dreckigen Pfoten von der Marion lassen, geht der Idiot auf mich los, da hab ich mich halt gewehrt… Mehr war nicht.“ Erst jetzt hebt Alex den Blick von der Kaffeetasse, keine 60 Sekunden hat sein Bericht gedauert.

Mann mit Glatze von hinten mit Tattoo aus der rechten Szene
© Violence Prevention Network/Klages

„So, wie Du das erzählst, klingt das ja fast wie Notwehr, der Richter hat das aber ein bisschen anders bewertet…“ Alex richtet seinen Oberkörper auf und blickt Tom direkt ins Gesicht: „Der Richter! Ganz klar´n Ausländerfreund, dass der den Russen so gedeckt hat, das Urteil is total ungerecht! Wer hat denn hier angefangen, wer hat denn hier die Marion angegrapscht, hätt´ ich da vielleicht warten sollen, bis der anfängt, sie zu vergewaltigen? – Ich bin kein Gewalttäter, ich hab schließlich kleine Kinder!“ Mechanisch schiebt Alex seinen massiven Silberring bis zum Mittelglied seines Fingers und wieder zurück. „Drei Jahre hast Du bekommen, ja? Und Du glaubst, die hast Du bekommen, weil Du Dich verteidigt hast?“, hakt Annette nach. „Wie hat das denn überhaupt angefangen an dem Tag, mit wem warst Du an der Tanke, und warum habt Ihr Euch überhaupt so lange da aufgehalten?“ Alex verschränkt die massigen Hände hinter dem Kopf. „Naja, ich war den ganzen Vormittag mit der Tanja bei unserer Kleenen, die lag da ja noch im Brutkasten. Nachmittags hab ich dann meine Karre repariert, damit wir die Kleine damit abholen können, wenn se rauskommt. Die Tanja war ja eh´ schon völlig mit den Nerven fertig, jeden Tag ins Krankenhaus, wusste nich, wie´s weitergeht, hatte ja ooch bloß keen Job, na und dann noch die Raten für die neue Küche…“ „Da hast Du an dem Tag doch bestimmt ganz schön unter Stress gestanden, oder? Also wenn ich mir das so vorstelle, Dein Kind jeden Tag nur im Brutkasten zu sehen und nicht zu wissen, ob´s rauskommt, das kaputte Auto und die ganzen Zahlungsverpflichtungen?“ „Ja, deswegen wollt´ ich die Tanja da ja auch mal rausholen, ´n netten Abend machen, wir haben dann noch die Marion, meine Ex, zur Tanke mitgenommen, die Mädels kommen ganz gut klar. Naja, da hab ich dann ´n Sixpack geholt, Mucke gehört und so… Später kamen noch´n paar Russen dazu, die hatten ne Flasche Wodka dabei.“ „Was heißt denn später, ich meine, so ein Sixpack ist ja ziemlich schnell weggetrunken zu dritt, oder?“ „Na, war ja nich´ nur eins, ich hab die nich gezählt…. Also, wir mit den Russen den Wodka getrunken, und dann wollte die Tanja plötzlich `n Rennen fahren und hat den Russen belabert, dass er ihr seinen Golf gibt…“

„Da müsst Ihr aber doch schon ziemlich betrunken gewesen sein, nach mehreren Sixpacks und dem Wodka von den Russen?“ „Hm. Hab die Karre dann ja auch auf´n Bordstein gesetzt. Vorderradaufhängung im Arsch. So´n Hals hatt´ ich!“ Nimmt man ihm sofort ab. Zwei Zentimeter größer sieht er plötzlich aus, so aufgerichtet, an seinem Hals treten die Sehnen hervor. „Und was hast Du dann als nächstes gemacht?“ „Na, die Tanja und ich zurück zur Marion, die war ja allein bei dem Russen geblieben, und wie wir näherkommen, denk´ ich, ich seh´ nicht richtig, grapscht der ihr an die Titte! Ich also zu ihm, er soll die Pfoten von der Marion lassen, da langt der mir eine! Da ging´s dann halt richtig zur Sache…“ „Und was haben die anderen Russen währenddessen gemacht, Du hast doch vorhin gesagt, da waren mehrere? Und die beiden Frauen?“ „Die anderen Russen waren weg, war nur noch der da. Und die Mädels haben halt rumgekreischt, als der Russe auf´m Boden lag.“ „O.k., dann hättet Ihr ja eigentlich auch gehen können, aber es ging ja noch weiter, oder?“

„Na, ich konnte meinen Opel ja nicht einfach da stehen lassen, den wollte ich abschleppen…“ „Womit wolltest Du denn mitten in der Nacht Dein Auto abschleppen?“ „Na, mit dem Golf.“ „Aber der gehörte doch dem Russen, fand der das o.k., nachdem Du Dich gerade mit ihm geprügelt hattest?“ „Also, der hat mich doch angegriffen! War mir scheißegal, was der davon hält, außerdem lag der ja eh noch aufm Boden. Aber kaum dreh ich ihm den Rücken zu, springt der auf und geht mit ner Aluleiter auf mich los, von hinten, die Sau! Da hab ich ihn dann richtig rundgemacht, der hat sich ja nicht mehr gerührt.“ „Wusstest Du da, ob er noch lebt?“ „Keine Ahnung, war mir auch egal, ich meine, der Typ hat die Marion angegrabscht und mich hinterrücks angegriffen, was muss ich mir denn noch alles gefallen lassen?“ „Das war Dir also egal, was mit dem Russen ist, ja? Ihr seid dann einfach gegangen?“ „Na der Typ von der Tankstelle hat wohl die Bullen gerufen, da bin ich mit den Mädels abgehauen, aber n paar Tage später standen die dann vor meiner Tür, bestimmt hat mich der blöde Russe verpfiffen… Aber ich krieg det in Griff, passiert mir nich´ nochmal…“ „Und wie glaubst Du, dass Du das in den Griff kriegen kannst?“ „Das klär ich mit mir selbst, damit bin ich ja bisher auch gut gefahren…“ „Na, ganz so gut scheint´s ja dann doch nicht gelaufen zu sein, sonst wärste ja nicht hier, oder?“