In erster Linie Mensch

Allein knapp 10.000 Katholiken konvertieren jährlich bundesweit zum Protestantismus, etwas über 6.000 Menschen ließen sich laut EKD-Statistik 2009 als Erwachsene erstmals evangelisch taufen. Angesichts dieser Zahlen stellt sich die Frage, wie verhältnismäßig die Aufmerksamkeit ist, die jedem Übertritt zum Islam zu Teil wird. Eine Aufmerksamkeit, die auch Andy und Nikoletta Schulz immer wieder erleben.

Junge Frau mit Kopftuch lächelt
© Violence Prevention Network/Klages

Nikoletta Schulz, Jahrgang 1977, ist im sozialistischen Ungarn geboren, katholisch getauft und mit neun Jahren mit ihrer Mutter nach Deutschland gekommen. Andys Wurzeln liegen in Israel und Palästina, von dort ist sein Vater über den Libanon nach Deutschland gekommen, seine Mutter ist eine gebürtige Deutsche, sie ist in den achtziger Jahren zum Islam konvertiert. Für Andy, der 1976 geboren ist, macht sich die Identitätsfrage weniger an der Herkunft fest als an der Sozialisation: Fühlt er sich zunächst als Deutscher, so ändert sich das mit dem Umzug nach Neukölln schlagartig, „da gab´s ja nur Türken und Araber, da hab‘ ich mich dann auch als Migrant gefühlt.“ Am Neuköllner Gymnasium hingegen, das er besucht, sind 90% der Schüler*innen deutsch und Muslime die Ausnahme. Die Frage nach dem Glauben ist zu diesem Zeitpunkt noch zweitrangig, „das hat für mich keine große Rolle gespielt, ob du Christ bist oder Muslim, das waren ja mehr oder weniger nur Kulturchristen und Kulturmuslime.“ Ab der elften Klasse wird Andy für seinen Biologielehrer zur Herausforderung, die Evolution alleine als Erklärungsmodell liefert ihm keine überzeugende Erklärung für das menschliche Sein und Tun: „Schließt die Evolution an sich einen Schöpfungsprozess aus?“ Neben evolutionären Fragen gerät Andy im täglichen Überlebenskampf noch an ganz andere Grenzen. „Um Gewalt kommst du in Neukölln nicht drum rum. Ich hatte die Wahl, ob ich mich abziehen lasse und dabei auf den Boden gucke – oder eben nicht. Das hat dann meine Identifikation mit der migrantischen Community noch verstärkt. Ich hab nämlich meine deutschen Freunde immer verteidigt, die mich aber meist nicht – das war bei meinen türkischen und arabischen Kumpels ganz anders.“ Andy rutscht in eine Spirale aus Gewalt, Drogen und Party, eine exzessive Auflehnung gegen die deutsche Leistungsgesellschaft, die alles an eine Bedingung zu knüpfen scheint: „Das kannst du nur, wenn du Abi machst, das geht nur, wenn du studierst, das geht nur, wenn….“ In dieses Hamsterrad will er nicht geraten. Aber auch der Weg über exzessive Gewalt und Regelüberschreitung „hat mir auch nicht gegeben, was mir im Leben gefehlt hat.“ Andy beginnt sich zu fragen, warum Menschen so unterschiedlich reagieren, so unterschiedlich dazu angetan sind, sich auf Fremdsteuerung einzulassen. Und ob die Frage nach der Vorprägung sich tatsächlich nicht anders beantworten lässt, als dass christliche Kulturen Christen und muslimische Kulturen Muslime hervorbringen.

Aber damit ist er erst am Anfang, die Frage nach dem größeren Zusammenhang, nach dem Warum stellt sich umso drängender. Warum bauen wir eine Sandburg, die, bei Ebbe mühsam gebaut, von der Flut wieder weggespült wird? Warum bauen wir sie, kaum hat das Wasser sich zurückgezogen, wieder auf, nur um ihrer erneuten Zerstörung durch die nächsten Wellen beizuwohnen, immer und immer wieder von Generation zu Generation? Wo liegt da der Sinn, fragt er sich, und stellt fest, wie existenziell die Beantwortung dieser Frage für ihn ist. Welche Antworten liefern das Judentum, das Christentum, der Islam auf seine Fragen? Und welche spezifische Funktion weisen sie jedem einzelnen zu, jedem Orangenkern, jeder Amsel, jedem Wesen und jedem Gegenstand? Andy macht sich auf die Suche nach Antworten. Er fragt – einmal mehr – seinen Biologielehrer, er fragt seine jüdischen, christlichen und muslimischen Freunde: „Gibt es Gott? Und wenn ja, will er etwas von mir?“ Auch Nikoletta sieht sich zu diesem Zeitpunkt Fragen ausgesetzt, auf die sie keine Antwort findet. Sie, die so gut wie keine Diskriminierung erfährt und als Musterbeispiel erfolgreicher Integration gelten könnte, wird in Deutschland nie richtig heimisch. Von ihren Freundinnen und Freunden kommt fast keiner aus Deutschland; sie selbst glaubt fest daran, dass sie nach dem Schulabschluss nach Ungarn zurückkehren wird. Als sie achtzehn ist, zieht ihre Mutter für ein Jahr nach Köln, Nikoletta bleibt in Berlin. Die Fragen nach dem Warum und Wohin werden übermächtig und lassen sich nicht betäuben. Erst später, mit ihrer Konversion zum Islam, wird sich dieser Konflikt für Nikoletta lösen. Für Andy wirft die Koranlektüre neue, drängende Fragen auf. Fragen, die sich jedem stellen, der sich intensiv mit religiösen Schriften befasst, ob Bibel, Koran oder Thora. In seiner deutschsprachigen Moscheegemeinde erlebt er nächtelange Diskussionen und große Offenheit, jede Frage wird zugelassen, auch die, wie Gott bestimmte Dinge erlauben kann. Genauso ergeht es Nikoletta. Drei Jahre reflektiert sie über Hingabe, Frieden und andere Aspekte des Islam, immer tiefer versuchen Andy und Nikoletta einzudringen, getrieben von dem Motor, „du weißt doch noch gar nicht alles“. Bis sie merken, dass die Frage, „wann werde ich je alles wissen?“, nicht zu beantworten, ja sogar eher lähmend ist, sie in eine Konsumentenrolle zwingt, in der sie nicht verharren wollen. Andy und Nikoletta fühlen sich bereit, Verantwortung zu übernehmen und selber zu geben. Sie fangen an, deutschsprachige Jugendliche theologisch zu unterweisen, gründen mit Freunden einen Verein für Integrations- und Jugendhilfe und stellen sich die Frage, „wo können wir hingehen, wo schon alle das Handtuch geworfen haben, wo noch keiner ist?“ Die Antwort finden sie im Jugendstrafvollzug Plötzensee, wo sie und ihre Mitstreiter sich zusammen mit einer christlichen Pfarrerin in der Gefangenenseelsorge engagieren. Zu dieser Zeit setzt auch der christlich-jüdische-moslemische Dialog in Berlin ein. Als Andy 2009 für das Bündnis für Demokratie und Toleranz eine Moscheeführung macht, fragt ihn der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, ob er sich vorstellen kann, als Imam mit Violence Prevention Network in die Gefängnisse zu gehen. Andy, der in der Gefangenenseelsorge aktiv ist, scheint ihm der geeignete Kandidat, aber Andy ist zunächst skeptisch: „Ich hab‘ das jahrelang gemacht, da hast du´s immer mit Leuten zu tun, wo du gerade noch was rettest…“ Bis er auf Thomas Mücke trifft, der seit Jahren mit jugendlichen Gewalttätern arbeitet, in den letzten Jahren zunehmend auch mit moslemischen Jugendlichen. Thomas Mücke, der ihm sagt: „Wir können den religiösen Aspekt in unserer Arbeit nicht mehr ausklammern.“ Und plötzlich ist da mit Violence Prevention Network eine Organisation, die genau das macht, was Andy wichtig erscheint, und die wiederum ihn braucht, um das Vertrauen der moslemischen Jugendlichen zu gewinnen. „Ihr Muslime unterdrückt die Frauen und brecht Kriege vom Zaun!“ Wie reagiert Andy darauf, wenn ihm in den Haftanstalten seitens der nicht-moslemischen Jugendlichen Klischees und Vorbehalte entgegenschlagen? Wenn er ihnen vorgestellt wird, als Trainer von Violence Prevention Network, als Imam und zuständig für Glaubensfragen? Er sucht den Dialog, versucht, einen Perspektivwechsel zu erzeugen: „Ihr habt recht, solche Muslime gibt es – was können wir denn jetzt gemeinsam tun, um das zu ändern?“ Und meistens kommen dann sehr schnell die lebenspraktischen Fragen, die den Alltag der jungen Männer betreffen, ob man in der JVA gemeinsam das Freitagsgebet beten könne, ob es o.k. sei, eine christliche Freundin zu haben, ob Juden und Christen in die Hölle kämen. Andy geht es vor allem darum, einen Denkprozess anzuregen, also gibt er weniger Antworten, als dass er Fragen stellt: „Der Prophet hat so und so gehandelt, was sagt dir das?“ Aber manchmal geht es eben doch um mehr, wenn aus Glaubensfragen Fragen um Leben und Tod werden. So wie damals in Hameln, wo ein Ehrenmordfall durch die Presse ging und die Frage aufkam, wie es wäre, wenn die eigene Schwester plötzlich einen Freund hätte. Besonders ein junger Mann stellt sich unversöhnlich, hart und rigoros hinter den Ehrenmord, ein anderer sekundiert ihm: „Ich weiß zwar nicht, was ich tun würde, aber ich finde das richtig!“ Die Gruppe scheint geschlossen hinter ihnen zu stehen. Bis einer nachdenklich äußert, „also ich weiß nicht, wenn das der Islam ist, dann bin ich kein Moslem…“ Als Thomas Mücke diesen einzelnen zum Schluss lobt, „du warst sehr mutig“, bricht plötzlich auch bei den anderen die ganze Abwehr weg; sie sind nicht mehr so sicher, ob ein Ehrenmord die richtige Lösung wäre. Es sind Beispiele wie diese, die Andy immer wieder bestätigen, wie viel sich bewegen lässt, wenn man sich auf die Motive des anderen einlässt, statt sie abzuwehren und zu bekämpfen. Nikoletta hat mittlerweile ihr Studium abgeschlossen, leistet ehrenamtlich Gemeindearbeit und arbeitet als Moscheeführerin. Für Bundeswehrgeneräle und Polizeidienstanwärter ist die Teilnahme an einer Moscheeführung Pflicht, „bevor die durch die Straßen von Neukölln marschieren…“ Außerdem leitet sie Seminare in interreligiöser Kompetenz für Erzieher*innen und Oberstufenklassen, die z.B. Geschlechterrollen und die Rolle der Frau im Islam thematisieren. Selbst das Arbeitsamt verlangt von seinen Kandidaten gelegentlich die Teilnahme an einem solchen Seminar. Als Violence Prevention Network im Frühjahr 2011 beschließt, im Wedding in die Community-Arbeit einzusteigen, wird schnell klar, wie unverzichtbar jemand wie Nikoletta ist. Weil das Kiezprojekt Maxime Wedding dann eben doch mehr ist als ein „AKT in freier Wildbahn“, wie Andy lächelnd umschreibt… Und weil da plötzlich geschlechtsspezifische Qualifikationen gefragt sind, die bei der Arbeit mit männlichen Jugendlichen im Strafvollzug nicht nötig waren. Wenn zum Beispiel ein Mädchen erzählt, dass sie gemobbt wird, weil sie am Ramadan nicht gefastet hat und klar wird, wie sehr eine Heranwachsende in Konflikt mit ihrer kulturellen und religiösen Prägung geraten kann. Ein Zugehörigkeits- und Identitätskonflikt, der Nikoletta selbst einst umgetrieben hat, den sie für sich gelöst hat. Weil ihr klargeworden ist, dass sie – unabhängig von ihrer Glaubensentscheidung – in erster Linie ein Mensch ist, dann erst Muslimin. Und dass es keine Rolle spielt, wo sie geboren ist, sondern wo – und vor allem, wie – sie zum gegebenen Zeitpunkt lebt. Und was sie weitergibt.